Der ESG-Konsens wankt

Die ersten Monate dieses Jahres waren schwierig. Spätestens mit Trumps Wiederwahl bestätigte sich, was sich in den Monaten davor bereits angedeutet hatte: Nach einer langen Hype-Phase, in der gefühlt alles mit Nachhaltigkeit etikettiert wurde – von Hundefutter bis Nagellack –, war Nachhaltigkeit politisch tot.
Unternehmen lassen CO₂-Ziele fallen wie heisse Kartoffeln und wickeln ihre Regenbogenfahnen wieder ein – hastig, fast beschämt.
Vor diesem Hintergrund fiel mir die Vorbereitung für anstehende Vorträge und Unterrichtseinheiten zum Thema Nachhaltigkeit schwer.
Die Geschichte, die ich bislang erzählt hatte – eine Geschichte der stetigen Ausweitung unternehmerischer Verantwortung: vom Shareholder- zum Stakeholder-Kapitalismus, und weit über die eigenen Betriebsgrenzen hinaus -, liess sich so nicht mehr aufrechterhalten.
In den letzten Jahren schien der Fall klar: Wer wirtschaftlich erfolgreich sein will – und wer etwas auf sich hält –, nimmt Nachhaltigkeit ernst. Vorzugsweise unter dem bei Investoren besonders beliebten Kürzel ESG. Und zwar entlang aller drei Dimensionen.
ESG galt als alternativloses Gesamtpaket. Kritik daran wurde schnell als Rückschritt, Ignoranz oder gar Leugnung gelesen. Reflexion erschien überflüssig – das Thema war auf einer normativen Ebene «durch».
Vom Fortschritt zur Fragmentierung
Diese Selbstgewissheit erinnert mich an Francis Fukuyamas berühmte These vom «Ende der Geschichte» im Anschluss an den Kalten Krieg. Auch er erklärte den Systemwettbewerb für beendet – zugunsten einer Kombination aus Demokratie und Marktwirtschaft. Und so ähnlich verstanden wir in den letzten Jahren auch ESG: als Paket, als Pflicht, als Fortschritt.
Doch genauso wie Fukuyamas These längst entzaubert wurde, hat auch die Realität die ESG-Erzählung überholt. China investiert massiv in erneuerbare Energien, lässt sich aber in Menschenrechtsfragen weiterhin nichts vorschreiben.
Ein Beispiel, das zeigt: Nachhaltigkeit ist kein unteilbares Paket, sondern ein Rahmen, den unterschiedliche Akteure sehr selektiv auslegen – oder ganz anders interpretieren.
In der EU wurde ESG zunehmend zur Reportingroutine und Compliance-Maschine degradiert – am besten automatisiert, möglichst mit KI. Für Wertediskussionen blieb kaum noch Raum.
Inzwischen schlägt der Backlash sogar auf die politische Ebene durch: Mit dem sogenannten Omnibus-Paket plant die EU eine spürbare Entschärfung ihrer Nachhaltigkeitsvorgaben – etwa durch gelockerte Reportingpflichten in der CSRD. Für mich ist das kein zwingender Rückschritt, sondern eine Chance, dem Thema wieder Substanz und Tiefe zu geben – jenseits von Pflichtübungen und automatisierter Berichterstattung.
Im krassen Gegensatz dazu wurde Nachhaltigkeit in den USA zur ideologischen Projektionsfläche – und landete im Kreuzfeuer des Kulturkampfs. Die politische Rechte nutzte die «Gesamtpaket»-Logik gnadenlos aus: Wenn Dekarbonisierung und Diversität in einem Atemzug genannt werden, fühlten auch sie sich legitimiert, alles in einen Topf zu werfen. Was ihnen da serviert wurde, nannten sie schlicht: «woke» – und stachen damit in ein Wespennest.
Was bleibt, wenn der Rückenwind fehlt
Inzwischen wird Nachhaltigkeit in den USA sogar gerichtlich ausgebremst: etwa wenn Netto-Null-Allianzen als Verstoss gegen das Kartellrecht gewertet werden, oder wenn allein die Berücksichtigung von ESG-Kriterien in der Anlagestrategie von Pensionskassen als Verletzung ihrer treuhänderischen Pflicht gilt.
Der derzeitige Backlash trifft so tief, weil er schonungslos offenlegt, wie viel des angeblichen Konsenses auf Wunschdenken beruhte – nicht auf echter Auseinandersetzung. Und wie sehr wir, auch ich zähle mich zähneknirschend dazu, Nachhaltigkeit als selbstverständlich behandelt haben.
Diese Entwicklungen liessen sich im Unterricht nicht ausblenden. Also packte ich den Stier bei den Hörnern und widmete dem Thema ein neues Kapitel: Der Nachhaltigkeits-Backlash.
Gemeinsam mit den Teilnehmenden diskutierten wir Fragen wie:
- Wie wurde Nachhaltigkeit zum Kulturkampf-Thema?
- Was bedeutet der Rückzug von Unternehmen aus Netto-Null-Allianzen?
- Welche Rolle spielen Politik und Justiz?
- Haben sich diejenigen, die in den letzten Jahren jedes Nachhaltigkeitsengagement reflexartig als Greenwashing abtaten, am Ende ins eigene Fleisch geschnitten?
Ein besonders prägnantes Beispiel war Unilever. Lange Zeit reichte die Spannweite ihrer Nachhaltigkeitsziele von 100 % nachhaltiger Beschaffung über die Elimination des Plastikproblems bis hin zur Förderung des Selbstbewusstseins („Self-Esteem“ war tatsächlich ein offizielles Ziel). Heute lautet das Motto: realistische Nachhaltigkeit – weniger, aber machbar.
Bemerkenswert ist: Dieser Kurswechsel erfolgte nicht erst im Sog des politischen Backlashs. Vielmehr hatte sich bereits zuvor gezeigt, dass manche Ziele strategisch überambitioniert waren, Investoren Druck machten – und sich die erhoffte Wirkung in der Realität nicht so schnell einstellte, wie erhofft. Auch das gehört zur Geschichte des Backlashs: Nicht nur die Politik, auch Unternehmen selbst haben sich verschätzt.
Nicht alles gehört auf die Verpackung
Ich hätte mir gewünscht, dass wir nie an diesen Punkt kommen. Aber jetzt, wo wir da sind, liegt auch eine Chance darin: Nachhaltigkeit nicht mehr als Gesamtpaket zu begreifen, das man entweder vollständig übernimmt oder komplett ablehnt, sondern als strategische Aufgabe, die differenzierte Antworten verlangt. Nicht alles gehört auf die Verpackung. Aber manches gehört ins Geschäftsmodell – und zwar so, dass es hält, auch wenn der politische Wind dreht.
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