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Was KI-Prognosen (fast immer) übersehen

Seit einiger Zeit gehören Prognosen darüber, wie viele Jobs und welche Berufsgattungen insgesamt von KI ausgelöscht werden, zur täglichen Newslektüre wie der Wetterbericht. Und ähnlich wie beim Wetter sind die Vorhersagen selten langfristig belastbar – auch wenn sie sehr entschieden formuliert werden.

Oft geht dabei vergessen, wer eigentlich genau diese Vorhersagen macht. Sehr häufig stammen sie nicht von den Menschen, die die betreffenden Berufe ausüben, sondern von jenen, die die KI-Systeme entwickeln. Eine der populärsten Stimmen ist die von Geoffrey Hinton, der 2024 den Nobelpreis in Physik für seine Verdienste in der KI-Forschung gewann.

Bereits 2016 sagte Hinton: „Wenn Sie als Radiologe arbeiten, sind Sie wie der Kojote, der bereits über den Rand der Klippe gesprungen ist, aber noch nicht nach unten geschaut hat (…). Man sollte jetzt aufhören, Radiologen auszubilden. Es ist völlig klar, dass Deep Learning innerhalb von fünf Jahren besser sein wird als Radiologen.“
Übersetzt aus Narayanan, Arvind and Kapoor, Sayash. AI Snake Oil: What Artificial Intelligence Can Do, What It Can’t, and How to Tell the Difference, Princeton: Princeton University Press, 2024.

Was geschah stattdessen? 2022 herrschte weltweit ein Mangel an Radiologen.

Warum liegen diese Prognosen so oft daneben?

Vielleicht hilft ein Blick in die Sinnfrage. Und ich zitiere – wieder einmal – Viktor Frankl. Bereits 1946 schrieb er:

„Wie ist es denn wirklich beim Arzt? Was gibt denn seinem Tun den Sinn? Dass er nach den Regeln der Kunst handelt? Im gegebenen Falle diese oder jene Injektion gibt oder Medizin verschreibt? Nur nach den Regeln der Kunst vorzugehen, darin besteht nicht die ärztliche Kunst. (…) Das, was der Arzt in der ärztlichen Arbeit und doch über das Nur-ärztliche hinaus tut, das Persönliche – das Menschliche, das macht den Sinn dieser Arbeit aus, macht den Menschen ihr unvertretbar.
Viktor E. Frankl: Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Wien: Deuticke, 2005, Kindle-Ausgabe, Pos. 2504

Ja, KI kann Röntgenbilder auswerten. Sie kann Diagnosen vorschlagen. Aber der wahre Wert einer Arbeit – das, was sie über reine Regelbefolgung hinaus mit Sinn erfüllt – bleibt dem Menschen vorbehalten.

Vielleicht wäre es an der Zeit, dass KI-Propheten weniger realitätsfremde Benchmarks studieren – und mehr Frankl lesen.

Eine Version dieser Gedanken wurde am 26. Februar 2025 auf LinkedIn veröffentlicht.